MARIANNE HALTER & MARIO MARCHISELLA

«Minimal Show», 23. August bis 21. September 2019

Eröffnung Freitag, 23. August 2019, ab 18 Uhr
Finissage Samstag, 21. September 2019, 13–16 Uhr

Öffnungszeiten:

Do / Fr
Sa
14–18 Uhr
13–16 Uhr
oder nach Vereinbarung

Von «Minimal Show» keine Spur. Es ist «Showtime» im LOKAL 14 . Fast die gesamte Wand im Eingangsbereich nehmen die neun grossformatigen Prints ein. Wuchtig dominieren sie den Raum in greller Farbigkeit. Das Schwarz ist von tiefer, fast haptischer Mattigkeit. Das Weiss ist so hell, dass es beinahe blendet.
In den rhomboiden Formen spielen sich bizarre Welten ab. Da und dort flackert noch Reales auf. Vereinzelt sind Textfragmente lesbar. Ein doppelter Eiffelturm ist hier, ein fragmentierter Strassenzug dort, erkennbar. Das meiste aber hat sich transformiert in abstrakte Gebilde, die an konstruktivistische Kunst des frühen zwanzigsten Jahrhunderts erinnert.
Dass es sich hier um eine deformierte Leuchtreklame handeln könnte, ist erahnbar, aber was ist passiert mit ihr? Die Auflösung dieses Rätsels erleben wir in der multimedialen Videoinstallation im Untergeschoss.

Wir sind uns gewohnt, Zeichen, Verkehrsschilder, Icons, aber auch Verhaltensweisen sicher und unmiss­verständlich zu deuten. Mit diesem notwendigen, erlernten Wissen, bewegen wir uns im Alltag. Keine Sekunde zögern wir, ob wir in eine Einbahnstrasse einfahren dürfen oder nicht. Das Verbot gilt hier, wie in der ganzen restlichen Welt.
Dass diese vermeintliche Sicherheit mitunter sehr diffus sein kann, erleben wir auf Reisen, wo schon kleine Abweichungen in den Normierungen ernsthafte Verunsicherungen auslösen können.
Solche Störungen des Wahrnehmens und Verhaltens hinterfragen Marianne Halter & Mario Marchisella auf ihren zahlreichen Reisen mit hintersinnigen, verspielten, auch subversiven, aber niemals wertenden, Interaktionen und Performances.

Dumpfes Pferdegetrampel und Wiehern ist zu hören. Es nähert sich. Ein wilder Ritt durch die Prärie? Mitnichten. Es kommt vom Velofahrer in der Schublade, der in «Pferde über Wiese» auf seinem Stahlross stolz über eine satte Wiese fährt. An einem Seil zieht er einen Lautsprecher hinter sich her, der eben dieses Wildwestgetrampel wiedergibt – immer und immer wieder. Ein Leerlauf, der enervieren kann.

In verzerrter Video-Präsentation verschieben sich in «Debütantenball» uniforme Autos wie choreo­grafiert zögerlich hin und her. Der Titel suggeriert, dass hier noch keine Könner am Werk sind.

«Rest or Stay» nimmt Bezug auf Begriffe der Preistafeln von japanischen Stundenhotels. Aus ihrem Kontext genommen entwickeln sie hier im Bürobereich des Ausstellungsraums neue Bedeutungen.

Die beiden Gedichte der alten Haiku-Meister Kobayashi Issa (1763–1828) und Matsuo Basho (1644–1694) kennt in Japan jedes Kind. Haikus verdichten und verschieben auf wenigen Zeilen Raum- und Zeitbezüge. Welche Rolle spielt der Akteur in «The Messenger», wenn er diese beiden Kurzgedichte in Tokyos Rushhour auf einem Tablett vor sich herträgt?

Ganz spärlich eingerichtet transformiert sich das Kabinett zu einem sakralen Raum. Reliquienhaft
präsentiert, liegt ein Häufchen Erde in einem Glaskästchen auf einem Sockel. Geheiligte Erde vom Berg Golgata? Ein Stuhl steht auf jeden Fall in gebührendem Abstand zur Andacht bereit.
Am 28. Mai 2017 wurde dem «New York Earth Room» des brühmten Konzept- und Landart-Künstlers Walter de Maria ein Besuch abgestattet. Dieser hat 1977 eine Wohnung von immerhin 335 Quadratmetern mehr als 50 cm hoch mit Erde gefüllt. Ein Gewicht von insgesamt fast 130 Tonnen. Eine masslose, absurd schöne Arbeit, die bis heute gehegt und gepflegt wird und besichtigt werden kann.
Fotografieren ist verboten. Erde mitnehmen sowieso. Genau das scheinen die Künstler aber getan und das ganze auch noch akribisch, mit einer Kamera, einem Logbuch und einem Aufnahmegerät festgehalten zu haben (alle Dokumente sind hier versammelt). Ein schelmisch subversiver Akt, der, wenn sich denn alles so zugetragen hat, den Künstlern erhebliche Schwierigkeiten hätte bereiten können, wären sie entdeckt worden.
Nun liegen hier also mutmasslich ein paar Gramm dieser gewaltigen Masse Erde – ein «Souvenir». Und – man wagt kaum, es sich einzugestehen – ein wenig Ehrfurcht stellt sich wirklich ein.

Im Untergeschoss schliesst sich der Reigen. Erneut ist «Showtime» – nun aber richtig. Eingestimmt von flackernden bunten Leuchten betreten wir einen «Partyraum», der das Video abspielt, dem die
Videostills im Obergeschoss entstammen.
Ein heftiges Gewitter setzt Las Vegas innert weniger Minuten unter Wasser. Unvermittelt erfährt die glücksverheissende Glitzerwelt Risse. Autos und Menschen kämpfen sich durch die Wassermassen. Das Leben verlangsamt sich, steht kurz vor dem Kollaps. Getragener Gesang begleitet die kurzzeitige Apokalypse und trägt das seine zur melancholischen Stimmung bei. Die riesige Leuchtreklame generiert in partiellem Blackout noch letzte schöne Bilder – ein veritabler Schwanengesang und ein Fanal, wie wenig es braucht, festgefügte Welten aus den Angeln zu heben.

Michael Nitsch, August 2019